Mensch - wer bist Du? -
Diese Frage hat mich während meines ganzen Lebens begleitet und bedrängt.
Bewusste Begegnungen mit anderen Menschen nahm ich etwa ab dem 4. Lebensjahr wahr.
Gegen Ende von Hitlers tausendjährigem Reich waren es viele Uniformierte. Mein Vater in Marine-Uniform, mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, in der Uniform eines einfachen Soldaten, der Ehemann von der Tochter meines Großvaters väterlicherseits in SA-Uniform, ein alter Bekannter meines Großvaters in der Uniform des Leiters der Berliner Schutz-Polizei, der Ehemann der Schwester meiner Mutter in der Uniform eines Zoll-Boot-Kommandanten usw.
Nach dem Krieg waren plötzlich alle ohne Uniform.
Ihre Kleidung war ärmlich oder gar zerlumpt. Die Bekleidung des Menschen ließ mehr ihn, den Menschen darin, erkennen.
Um ihn ging es mir eigentlich. Mein Gegenüber interessierte mich in vollem Umfang und gleichzeitig wurde er für mich, den anderen Menschen, zum Spiegel.
Ein ungeheuer interessantes und verwirrend vielfältiges Geschehen spielte sich ab.
Als Heranwachsender begann für mich ein Kategorisieren, Analysieren und Kommentieren, das ich mit anderen – wegen Desinteresse – nicht teilen konnte.
Mir wuchs die Rolle eines stillen Beobachters zu, der tags immer neue Impressionen aufnahm, die er nachts in seinen Träumen oder Wachphasen zu verarbeiten hatte.
Mit meiner Berufswahl zum Arzt und mit Beginn meines Medizinstudiums stellte sich die Frage: »Mensch – wer bist Du?« anfangs rein anatomisch.
Der Mensch wurde für mich zu einem Forschungs-Objekt, das ich sezierte, strukturierte und physiologisch-biochemisch erkundete.
Ich lernte zu typisieren, mich mit menschlichen Krankheiten auseinanderzusetzen und diese zu therapieren.
Mit dem Thema meiner Doktorarbeit fing perinatologisches Forschen an. Wer oder was war das Menschlein vor der Geburt ….. und vieles mehr interessierte mich auf spannende Weise.
Mit meinem 24. Lebensjahr traf ich auf Zen und wider tauchte die Frage: Mensch – wer bist Du? In seiner psychologischen Dimension auf.
Diesmal fokussiert sich das Fragen auf mein Inneres, das Nicht-Greifbare, das Spirituelle.
Mein Interesse galt nun dem Geist in seinem Sein, seiner Funktion und seiner Determination.
Er war es, der das Säugetier Mensch zum Menschen werden ließ – oder ihn eben geistlos zurückließ.
Meine Zen-Schulung war streng und führte zu einer gnadenlosen Konfrontation mit mir selbst – in all meinem Können und Unvermögen.
Noch immer treibt es mich um.
Das 55. Jahr meiner Übung ist angebrochen und mit etwas mehr Gelassenheit stelle ich mich dem Leben in mir und um mich.
Menschen aller Hautfarben und Nationen trafen auf den Menschen Sōtetsu Yūzen. Es kam zu Interaktionen, Reaktionen, Veränderungen und Neuausrichtungen. Noch immer befinde ich mich in diesem prozessualen Geschehen – Leben genannt.
Eine Zeit des Reisens bereicherte mein Leben. Besonders der Ferne Osten zog mich nach China und Japan.
Immer wenn etwas Neues mein Leben mehrte, dann wollte ich ganz genau wissen, womit ich es zu tun hatte.
Da waren das Land, die Menschen, ihre Gewohnheiten, ihre Sitten und Gebräuche, ihr Denken, Fühlen und Handeln.
Die Ursprünge des Zen liegen in China – und ich versuchte, wie ein Chinese zu leben, mich so zu kleiden, zu essen, wahrzunehmen und zu den geistigen Wurzeln zu gelangen, die chinesischem Sein eigen sind.
Alles, wirklich alles, war neu und unbekannt.
Das selbstverständlichste Alltagsgeschehen in China bezog mich mit ein und ich lernte, entdeckte und tat mit.
Allein das Essen mit Stäbchen und die vielen Gerüche, Geschmäcke und Gerichte mit Reis, Gemüse, Fisch, Fleisch und allem, was wuchs, sich bewegte an Land oder im Wasser und auf bestimmte Art und Weise be- und verarbeitet wurde, ließ ich in mich ein.
Besonders das Zusammensein mit einfachen Menschen, ihrem Schmatzen, Schlürfen, Rülpsen, Spucken, Stöhnen, Gehen, Sitzen auf der Erde, Gestikulieren mit Kopfnicken und schließlich Schnarchen machte mir große Freude.
In Japan war es das schweigende Betrachten, das dem Gegenüber völlig andere laute Schlürfen von Nudeln, das Betrachten von auf feinsinnigste Art dekorierter Speisen in kunstvoller, zum Teil antiker Keramik, das gemeinsame Baden von Mann und Frau in sogenannten Onsen, den heißen, aus der Erde sprudelnden, schwefelig stinkenden Quellen und schließlich das Schlafen auf Futons, die erst kurz vor der Nachtruhe – wegen des eng begrenzten Raumes – auf der Erde ausgebreiteten Schlafmatten.
Nichts ließ ich mir entgehen.
Die mangels Sprachkenntnissen mit viel Gestik geführten menschlichen Begegnungen faszinierten mich.
Das Erstaunliche – trotz fehlender Worte gelang fast immer ein gegenseitiges Verstehen, ja sogar Erfühlen von unbekannten Emotionen aller Art.
Das zarte, schüchterne, feinfühlige Angenommenwerden von einer Frau und das zutiefst sinnliche, leidenschaftliche, in der Liebeskunst fast vollendete Beglücktwerden, nahm ich mit Erstaunen als Geschenk tief empfindend an.
Bei alledem stellte ich fest:
Nichts ist mir eigentlich fremd.
Es ist der ungedachte, ungeformte, unbestimmte Ursprungs-Mensch, der seinesgleichen begegnet.
Das zählt zu den innigsten und wertvollsten Erlebnissen meines bisher 79 jährigen Lebens. Es gibt keine Worte des Dankes und der Beschreibung.
Zurückblickend schieben sich zahllose Menschentypen – gezählt habe ich sie nicht – in die Erinnerung.
Eine geraume Zeit suchte ich nach dem Unterschiedlichen – jetzt ist es das Verbindende, das Gemeinsame, was interessiert.
Dabei schwindet die Grenze zwischen „Ich“ und „Du“ immer mehr und hervor tritt der Mensch als ein Etwas, das mit fortschreitender Übung seine Besonderheit verliert und sich beständig dem Nicht-Etwas nähert – dem undifferenzierten Sein zufließt.
Das Eine wird im Vielen deutlicher, nähert sich seiner menschlichen Grundexistenz, dem Geist – in seiner raum- und zeitlosen, anfangs- und endlosen, schöpferlosen, von nichts und niemand besitzenden Seinsweise.
Als alternder Beobachter wohne ich – manchmal noch immer atemlos staunend – diesem Geschehen mit jugendlichem Wissensdurst bei. Diese Spannung hält mich am Leben, das in dieses Dasein versetzt auch in der Funktion als Mann mit seinen Lebensbedürfnissen und sexueller Lebendigkeit fortbesteht.
Namen sind für mich wie Schall und Rauch.
Gesichter hingegen haben sich mir eingeprägt.
Wie Bilder sind sie, die einer Galerie gleich an mir vorüberzieht.
Zahllos sind die Begegnungen in der Wirklichkeit, im Erinnern, im Träumen.
Wir treffen uns, grüßen uns, umarmen uns, stoßen uns weg, trennen uns, gehen unserer Wege – und doch geschieht alles in dem einen anfangs- und endlosen Kosmos, zu dem es keinen Eintritt noch Austritt gibt.
Da bleibt nur Staunen!
All unser Habenwollen muss gewollt oder ungewollt sich früher oder später in das Sein einordnen und ihm folgen – wohin?
Niemand weiß es – ES ist das So-sein.
Liebe und Einfachheit
zu jeder Zeit mit allem,
denen Du immer mehr
in den Tiefen Deines Herzens
näherkommen wirst.
Das also sind wir Menschen – unser Entstehen, unsere Bestimmung, unsere Auflösung und Rückkehr ins leere Sein.
Was ist ES, das Leere Sein?
Es ist das Wissen des Nicht-Wissens, die Unbegreifbarkeit, die Leere von allem, was wir je gedacht, gewünscht, geträumt, erwartet haben – es ist das Ende des ›Ich‹.